Herzflimmern

Dienstag, 16.12.1975 19:15  ! Audimax
19:15 Herzflimmern

Programmheft WS 1985/1986:

Dijon 1954. Laurent (B.Ferreux) lebt mit seinen Eltern und Brüdern in einem bequemen Haus. Der Vater (D.Gélin) ist ein angesehener Arzt, die italienische Mutter Clara (L.Massari) läßt sich leicht von ihren Söhnen um den Finger wickeln. Ab und zu trifft sie sich mit ihrem Liebhaber.

Malle beginnt seinen Film mit einer eleganten, ironischen Schilderung des bürgerlichen Milieus einer wohlhabenden Provinzstadt. Die Schüler des katholischen Gymnasiums sammeln auf der Straße für die Verwundeten des Indochina-Krieges, der Pater Henri (M.
Lonsdale) sorgt in intensiven Einzelverhören dafür, daß die sexuelle Moral der Zöglinge aufrecht erhalten wird, die Schüler spielen ihre kleinen Streiche. Im Hause der Familie Chevalier ist man liberal, die Söhne proben auch schon mal den Aufstand beim Mittagstisch, ärgern die schöne, an Wildheit ihren Söhnen in nichts nachstehende Mutter und ihre alte italienische Hausangestellte. Zum Geburtstag des kleinen Laurent entführen ihn die Brüder ins Bordell, um dann sadistisch seinen ersten Anlauf zu unterbrechen. Man ist gebildet, liest Camus' "Le Mythe de Sisyphe" und Boris Vians "J'irai cracher sur vos tombes", die Mutter hält sich im Nachttisch die "Histoire d'O". Kultivierte liberal bürgerliche Atmosphäre der Provinz.

Stabile bürgerliche Verhältnisse, in denen Laurent die ersten Schritte zur Mannbarkeit macht. Die Rituale des familiaren und schulischen Alltags werden durchbrochen, als bei Laurent eine akute Herzerkrankung festgestellt wird. Zusammen mit der Mutter wird er zur Erholung in ein gediegenes Kurhotel geschickt. Tees und kleine Flirts bieten Abwechslung. Eines Tages überrascht Laurent die Mutter mit ihrem Liebhaber. Er ist gekränkt und verletzt. Wenig später wird er für einen kurzen Moment selbst zum Liebhaber der Mutter. Im Inzest zum Mann geworden, verbringt er eine Nacht bei seiner kleinen Freundin. Als er sich auf Socken ins Zimmer schleichen will, sitzt dort die ganze Familie, in einem freundlichen Beifallslachen wird der junge Liebhaber von den Seinen begrüßt.

"Herzflimmern" sorgte in Frankreich für einen kleinen Skandal, weil er auf eine beiläufige und selbstverständliche Art ein Tabu verletzt hat, das vielen als das Herzstück jeder Zivilisation gilt: den Inzest zwischen Mutter und Sohn. Das große ödipale Drama hat L. Malle verweigert und es scheint, als wäre ihm gerade die verweigerte Befriedigung des Strafbedürfnisses einer auf dem Schuldkomplex aufgebauten Kultur verübelt worden.
(nach:Gertrud Koch: Filmografie in Reihe Film 34, L.Malle)