Citizen Kane

Mittwoch, 8.11.1967 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Citizen Kane

Programmheft SoSe 1991:

Der Klassiker zum Thema "Der amerikanische Traum und ich".

In dem Film gab Orson Welles sein Debut als Regisseur; Autor und Hauptdarsteller. Auf der Suche nach der Bedeutung Kanes letzten Wortes „Rosebud”, rollt ein Reporter das abenteuerliche Leben des James Foster Kane auf. Kane, geboren als Sohn ärmlicher Eltern, die unvermutet reich werden, schafft es bis zum sagenumwobenen Multimillionär, der plötzlich in seiner festungsähnlichen Traumvilla Xanadu verstirbt.

In diesem Meisterwerk, von vielen Kritikern als bester Film aller Zeiten bezeichnet, zog Wells virtuos alle Register der filmtechnischen Möglichkeiten.


Programmheft WS 1967/1968:

Aus der Perspektive von 1962 stellt „Citizen Kane” sich als das Manifest des modernen Films dar. Ein Zuschauer, der eine genaue Kenntnis des Nachkriegsfilms besäße, aber ahnungslos dem „Citizen Kane“ begegnete, könnte wohl darauf verfallen, in ihm die Einflüsse Bergmans, Antonionis‚ Kurosawas, Kazans, Ophüls‘, Resnais‘, des späten Eisenstein und des Fernsehens festzustellen. Fast alles, was uns als Errungenschaft der Fünfzigerjahre erscheint, ist hier bereits angelegt.

Zunächst: die Abkehr von der Chronologie. In dieser Reihenfolge berichtet der Film vom Leben seines Titelhelden: Ein Mann stirbt. Als Kind, aufgewachsen auf dem Land, erbt er ein Millionenvermögen. Als Jüngling benutzt er es dazu, eine unabhängige Zeitung zu lancieren. Als reifer Mann verliert er einen Teil seines Vermögens in der Wirtschaftskrise und verkauft seinen Pressekonzern. Der junge Kane beim Aufbau seiner Redaktion. Er hat Erfolg, sammelt Kunstschätze und heiratet eine Nichte des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Geschichte seiner ersten Ehe. Kane lernt eine kleine Verkäuferin kennen. Er kandidiert bei der Gouverneurswahl. Sein Gegner nutzt seine Kenntnis von Kanes Privatleben aus: Skandal, Wahlniederlage. Zweite Heirat. Erster Bühnenauftritt von Susan, der zweiten Mrs. Kane. Kane kümmert sich um die Kritiken. Vor der Premiere: Mrs. Kanes Gesangsstunden. Noch einmal die Premiere. Mißerfolg; Susan unternimmt einen Selbstmordversuch. Auf Schloß Xanadu‚ Kanes Alterssitz. Susan verläßt ihn.

Nun wäre es aber auch unmöglich, diese Sequenzen des Films in der chronologisch „richtigen“ Reihenfolge zu montieren. Fünfmal wechselt die Perspektive auf Kane: was gezeigt wird, ist nicht eigentlich sein Leben, sondern die Spur die er im Leben von fünf Menschen hinterlassen hat. Kane ist tot, fünf Minuten nach Beginn des Films. Und sein Autor tut nicht so, als könne er Tote zum Leben erwecken. Nicht das Porträt Kanes wird gezeichnet, sondern das seines Vormunds Thatcher, das seines Geschäftsführers Bernstein, das seines Jugendfreundes Leland, das seiner zweiten Frau Susan, das seines Majordomus Raymond.

Aber auch von ihnen erfahren wir nur, was sich von ihnen in einem Gespräch von wenigen Minuten mitteilt. Wir sehen sie. wir hören ihre Erzählungen. Von Thatcher erfahren wir gar nur, was er in seinen Memoiren mitgeteilt hat. Auch er ist tot. Der Zuschauer erfährt nicht mehr als der Reporter Thompson, der ausgesandt wird, um das Geheimnis zu ergründen, das hinter Kanes letztem Wort, „Rosenknospe”, sich verbergen mag. Dieser Thompson ist der eigentliche „Held“ des Films, die Gestalt, mit der der Zuschauer sich identifiziert. Er ist aber die am wenigsten profilierte Figur des Films. Man sieht sie stets nur von hinten oder im Halbprofil. Das bedeutet die nachdrückliche Dementierung des Helden.
Dem Zuschauer wird die Identifikation mit dem Handelnden (Kane) und selbst die mit den Leidenden (Kanes Bekannten) versagt. Er wird zum passiven Zeugen, nicht einmal zum Zeugen der Ereignisse selbst, sondern zum Zeugen von Zeugenaussagen. Das Ende der Chronologie bedeutet das Ende des Helden. Die Chronologie „setzt” ihn. Sie definiert die Identität des Augenblicks: nur der unwiederbringliche Moment ist mit sich selbst identisch. Kann er zurückgeholt werden, unterliegt er dem Zweifel. Nur der sterbende Kane und sein letztes Wort sind verbürgt. Alles weitere sind Behauptungen, Erinnerungen, Mutmaßungen ...

Der Stil des „Citizen Kane“, sein viel gelästerter Eklektizismus, seine Übertreibungen, seine scheinbaren Widersprüche: sie sind lediglich der sinnfällige Ausdruck der Erzählhaltung des Autors. Ein exotisches Panorama tut sich auf in den ersten Bildern des Films. Hinter einem Gitter erscheint, als schwarze Silhouette, Schloß Xanadu. Ein Schild besagt: „Eintritt verboten!“ Die Kamera dringt dennoch ein. Schloßgemäuer, maurisch-gotisch; Nebel überm Canale mit Gondeln; Affenkäfige und exotische Vögel. Eine Glaskugel, in der es auf eine kleine Hütte schneit. So beginnt „Citizen Kane“, wie ein phantastischer Reisebericht aus unerhörten Fernen. Wenn dann plötzlich schmetternde Marschmusik einsetzt und mit einem bombastischen Titel der Dokumentarfilm beginnt, so wird damit der Akkord angeschlagen, den der Film in eine Melodie auflöst: Phantastik und Dokument, Geheimnis und Realität klingen zusammen. Der Dokumentarfilm selbst ist eine kleine Paradeleistung für sich. Welles hat hier exakt die Form jener filmischen Magazine imitiert, die in Amerika vor dem Kriege populär waren und die später allen ähnlichen Kino- und Fernsehfilmen zum Vorbild wurden.

Den Ton der Bilderzählung bestimmt im weiteren vor allem die Kombination von Weitwinkelaufnahmen und fotografischer Tiefenschärfe. Daß man in einer Einstellung Decke und Boden des Raums gleichzeitig sieht und zugleich Hinter-‚ Mittel- und Vordergrund in gleicher Schärfe wahrnimmt, ist allein gewiß weder ein Grund zur Begeisterung, noch zur Entrüstung. Weder die naiven Anhänger des Verfahrens, die darin einen Triumph des Realismus sahen, noch die Gegner, die darin einen lästerlichen Verstoß gegen die Wahrnehmungsweise des menschlichen Auges sahen hatten recht.
Was die Rückblenden des Films zeigen, sind ja keine beiläufig beobachteten Wirklichkeitsausschnitte, sondern Erinnerungsbilder, die, da sie zentrale Erlebnisse aus dem Leben der Berichtenden enthalten, eine mannigfache Stilisierung durchgemacht haben. Sie haben sich in das Unterbewußtsein der Erzähler eingegraben, haben die Qualität von Traumbildern gewonnen, in denen disparate Details gleich klar erscheinen.

Die Weitwinkelaufnahmen bewirken, daß man in die meisten Einstellungen wie in eine Guckkastenbühne mit künstlich verlängerter Perspektive hineinblickt ... Viele Einstellungen sind aus leichter Untersicht fotografiert: Nicht nur wird dadurch das Überlebensgroße der Gestalt Kanes markiert, wie sie sich in der Erinnerung der Zeitgenossen darstellt, auch das Albtraumhafte, das für die meisten seiner Gefährten das Leben mit ihm bekommen haben muß, wird dadurch fühlbar gemacht. Eine andere charakteristische Einstellungsart ist die Vogelflugperspektive. Mehrmals nähert sich die Kamera in einer Fahrtaufnahme von oben dem Objekt. Dabei offenbaren sich Formationen, die an Luftaufnahmen von Manhattan erinnern: die gestapelten Zeitungen in Kanes Verlagshaus, die Tische im Cabaret, in dem Susan auftritt, die Kisten mit Kanes Kunstschätzen am Schluß.

Die Einführung des Weitwinkelobjektivs und der Tiefenschärfe, bei gleichzeitiger Aktivierung der bewegten Kamera.
hat, wie vielfach bemerkt worden ist, die Montage innerhalb einer Szene weitgehend überflüssig gemacht, ohne Schnitt gehen Einstellungen verschiedener Art ineinander über, ja eine Einstellung kann Totale, Nah- und Großaufnahme zugleich sein. Das bedeutet indessen nicht, daß Welles die Montage überhaupt verschmäht. Im Gegenteil: kaum ein anderer moderner Regisseur hat so rigoros von ihr Gebrauch gemacht. Nur hat der Schnitt bei ihm nicht mehr die Funktion, Gleichzeitiges in ein Nacheinander aufzulösen, sondern die, Ungleichzeitiges zu binden und den Verlauf von Zeit sichtbar zu machen.

(Filmkritik 7/62)