Die Müßiggänger

Mittwoch, 14.12.1966 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Die Müßiggänger

Programmheft WS 1966/1967:

I Vitelloni — von vitello, das Kalb — ist ein Wort, das erst durch Fellinis Film allgemein bekannt geworden ist. Es bezeichnet jene Gammler in italienischen Kleinstädten um die dreißig herum, die längst auf eigenen Füßen stehen müßten, es jedoch vorziehen, ihren Eltern oder Geschwistern auf der Tasche zu liegen, und ihr Leben in Restaurants, auf Spaziergängen und auf Festen zu verbringen. Sie sind große Kinder; erwachsen in ihren Begierden und Ansprüchen, haben sie sich das Wunschdenken der Kindheit bewahrt. Ihre Vorstellung vom Leben ist ein Traum, in dem alles von den privaten Intentionen des Individuums bestimmt wird. Sobald sie sich dem wirklichen Leben stellen müssen — und der Film hält für jeden von ihnen solche Begegnungen bereit — erleiden sie ein grausames Erwachen.
Fausto widerfährt das an dem Tag, an dem er über seinen eleganten Anzug den Staubkittel eines Ladenschwengels anzuziehen hat. Leopoldo nimmt in panischem Schrecken Reißaus, als er merkt, daß der alternde, quallige Mime, der seine Dramen auf die Bühne zu bringen verspricht, ihn eigentlich nur als Buhlknaben gewinnen will. Alberto bricht in hemmungsloses Weinen aus, als seine Schwester Olga, die ihn und ihre Mutter finanziell unterstützt, mit einem obskuren Liebhaber die Stadt verläßt. Der behäbige Riccardo verliert völlig die Fassung und versteht am schnellsten zu laufen, als die Straßenarbeiter, die Alberto gefoppt hatte, hinter ihm her sind. Für Moraldo schließlich wird die wiederholte Begegnung mit einem Arbeiterjungen zu einem der Anlässe, die Stadt zu verlassen.
Die Vitelloni leben in Pesaro, einem Strandbad am Mittelmeer. Die Zeit scheint-hier stehen geblieben zu sein. Ihre Väter sind oder waren städtische Beamte oder Geschäftsleute. Das Städtchen lebt vom Fremdenverkehr während der Saison. Sonst wirkt es wie ausgestorben. Die Zukunft, die sie erwartet, haben die Vitelloni konkret im unendlich einförmigen, tristen Dasein ihrer Eltern vor Augen. Das lähmt sie und erzeugt als einzige Reaktion einen passiven Widerstand. Sie protestieren, indem sie nicht arbeiten und mit der schamlosen Attitüde von Bettlern von denen leben, die sie in tiefster Seele verachten. So erfahren die Vitelloni, was Giacomo Leopardi „die grenzenlose Nichtigkeit des Ganzen” genannt hat: die Langeweile wird zum beherrschenden Moment ihres Lebens.

aus Filmkritik 12/60