Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen

Mittwoch, 4.5.1966 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen

Programmheft SoSe 1966:

Es ist keine Referenz vor Bresson, wenn der Verleih diesem Film seinen originalen Titel beließ. Bresson selbst bat sich das aus, wohl wissend, wie wenig attraktiv und werbewirksam es ist, ein Publikum, das fragende Vieldeutigkeiten gewohnt ist, mit einer eindeutigen Feststellung zu konfrontieren. Doch eben darum ist es Bresson zu tun. Indem er das Ende des Films verrät und keine Neugier auf mögliche Katastrophen mehr zuläßt, evoziert er bereits im Titel jene Gelassenheit, die am Gelingen der Flucht nur insoweit interessiert ist, als sich damit ein Charakter und sein Auftrag erfüllen...
Der Vorwurf des Films ist authentisch. Die Geschichte Fontaines (Leterrier), eines Leutnants der Resistance, dem 1943 die Flucht aus dem SS-Gefängnis Montluc bei Lyon gelingt, fand Bresson in den Aufzeichnungen des Offiziers Andre Devigny im »Figaro Litteraire«. Bresson hielt sich an diese Aufzeichnungen, einer Anekdote nach, bis auf die Wanzen in Fontaines Zelle. Mit einer dokumentarischen Präzision, von der sich vier Jahre später Jacques Becker (»Das Loch«) faszinieren ließ, werden Fontaines Einübungen in die Flucht augenfällig gemacht...
Alle diese Aktionen erscheinen im Detail und sind dennoch etwas wesentlich anderes als action. Es ist nicht zuletzt der bedächtige Schnitt mit seinen Überblendungen und vielen Wiederholungen, der an die Stelle der Aufregung die Sensation im Sinne des Wortes setzt. Die 46 Sequenzen des Films sind in ein einziges staccato, dem Schnitt eines Thrillers absolut zuwiderlaufend. Das beharrliche Nah und Groß der einzelnen Einstellungen, die klassische Komposition aller Bilder, das verweigert jeden, Affekt, fordert Überlegung. . .

Was Bresson will, verdeutlicht indessen vor allem ein Kunstgriff, der in der konventionellen Dramaturgie einer Todsünde gleichkommt. Fontaines innerer Monolog nämlich erklärt jeweils exakt das, was wir ohnedies sehen. Was das Ende jedes Dokumentarfilms wäre, hier wird es zum höchsten ästhetischen und ethischen Prinzip. Der Protagonist wird vorgestellt als ein absolut bewußt Handelnder. Sein innerer Monolog macht die Fülle und Unbeugsamkeit dieses Bewußtseins spürbar für den Betrachter, wie sein Verhalten und Handeln fruchtbar wird für seine Kameraden... Kraft des Bewußtseins verändert ein Mensch seine Mitmenschen, ändern Menschen einander. Das ist, zunächst einmal sehr profan begriffen, das Thema dieses Films, und es ist zugleich das Thema des Bressonschen Werkes überhaupt. . .

Bressons Streit wider die thomistische Todsünde der acedia manifestiert sich am deutlichsten in »Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen«, schlägt dort auch am spürbarsten in das Prinzip Hoffnung um. Indem Fontaine seine Flucht vorbereitet, gibt er seinen resignierenden Mitgefangenen Zuversicht, und diese wiederum, so gegen die »Versuchung zur Hoffnungslosigkeit« (Jean Semolue) gefeit, stimulieren seinen Willen zur Flucht... Doch redet Bresson damit keineswegs einem blinden Willen zur Tat das Wort. Am gescheiterten Fluchtversuch eines Mitgefangenen erweist sich, daß sich nur dessen Hoffnung erfüllt, der sie mit enggespannter Vernunft zur realisieren weiß. — Fontaines Haltung gegenüber seinen Kameraden, für Bresson die Nächstenliebe einer anima naturaliter christiana, ist mehr als eine Sache des Gefühls, ist Ausdruck seiner Vernunft, ist Solidarität. Und wenn aus dieser Solidarität für Fontaine endlich sogar notwendigste materielle Hilfe erwächst...‚ so ist das die Frucht einer Vernunft, die Brüderlichkeit stiftet und damit zugleich Freiheit. Doch für Bresson, den Thomisten, wird diese Vernunft erst durch Gnade vollendet.