American Indiestream

Nie gehört, was soll das denn sein? Wer sich irgendwie fürs Kino interessiert oder auch nur einen Fernseher hat, ist sicher schon damit in Berührung gekommen, und wir haben in früheren Semestern auch schon mehrere Filme gezeigt, die als dessen Vertreter angesehen werden können. Gemeint sind die Ergebnisse einer seit Beginn der 90er stetig zunehmenden Entwicklung, die inzwischen so angewachsen ist, daß sie seit 1999 auch öffentlich als Phänomen wahrgenommen wird ("…the year that changed the movies…", Entertainment Weekly). Allerdings hat sich dafür, soweit mir bekannt, noch keine bestimmte Bezeichnung eingebürgert. Auch scheint der Focus der Medien weniger auf den Filmen selbst als auf einer neuen Generation von Regisseuren zu liegen, die aber nicht hinter allen Filmen stehen, die zu dieser neuen Sorte gezählt werden müssen.

Ihnen gemeinsam ist eine sich in allen Belangen - von inhaltlichen über formale bis zur produktionstechnischen Seite - abzeichnende Verschränkung von Elementen aus Independent- und Studioproduktion, wobei Berührungsfläche(n) und Mischungsverhältnis(se) höchst unterschiedlich ausfallen können. Dieses Phänomen ist weit davon entfernt, wie das "Dogma 95"-Konzept eine organisierte oder gar eine durch ein schriftliches Manifest begründete Sache zu sein, obwohl beide durchaus etwas miteinander zu tun haben. Beziehen sich die einzelnen "Dogma 95"-Regeln hauptsächlich auf formal-technische Aspekte, so doch vor der grundlegenden Intention, Authentizität zurück zu gewinnen. Ebenso wird in Amerika eine neue Qualität an Glaubhaftigkeit angestrebt, auch wenn die Mittel zu deren Erreichung frei wählbar bleiben, denn die pragmatischen Amerikaner gehen die Sache unklausulierter und individueller an ("Der Stil eines Films muss von den Charakteren geprägt werden - von der Art und Weise, wie man deren Gefühle schildern kann.", Kimberly Pierce, Regie und Buch bei "Boy´s Don´t Cry"). In einem Punkt scheinen sie sich aber doch ziemlich einig zu sein: der Weg zu glaubhaften Geschichten fängt damit an, ihnen einen Erzähler zurück zu geben.

In Zeiten, in denen eine absolut durchschnittliche Hollywoodproduktion locker 50 bis 75 Mega$ verschlingt und ihre Promotion und Vermarktung weitere Millionen, trauen sich die Studios von diesem Kostendruck gezwungen nur noch ganz selten, Filme zu "riskieren", deren Bücher nicht mit "Knallern" vollgepackt sind, scheinbar ohne zu sehen, daß es nicht zuletzt deren Umsetzung ist, die die Kosten hochtreibt. Dazu werden ganze Schreiberkollektive verdonnert, "Höhepunkte" aneinander zu reihen, bevor die doppelte Zahl anderer Autoren alles noch x-mal umschreibt und das verfilmte Ergebnis nach vielen Testvorführungen wieder umfrisiert wird, bis am Ende ein Film dasteht, dessen "Handlung" darin besteht, mehr oder minder geglückte Übergänge zwischen den neuesten Errungenschaften der Stunt- und SFX-Crews zu bilden.

So verwundert es nicht mehr, daß die schon als "Hohepriester des Drehbuchs" titulierten Erneuerer ausgerechnet beim altmodischsten Teil des Schaffensprozesses ansetzen und ihre Geschichten fast ausnahmslos selbst schreiben, oder zumindest am Drehbuch mitarbeiten, auch wenn das in den offiziellen Credits nicht immer vermerkt ist ("Being John Malkovich", "American Beauty"). Ihr Streben nach Glaubhaftigkeit äußert sich dabei einerseits in der drastischen Ehrlichkeit, mit der sie das Amerika von Heute mit sich selbst konfrontieren ("...eines neuen amerikanischen Autorenkinos, das zu Gunsten neuer Intensitäten mit den distanzierten Pastiche-Konstruktionen der Postmoderne bricht,...", Screenshot) ("In the Company of Men", "Magnolia", "American History X", "Happiness", "Boys don´t cry", "Your Friends and Neighbours") und andererseits in der Art, wie sie durch groteske Zuspitzung, subversive Suggestion oder ironische Brechung die verlogenen Unmenschlichkeiten und gewalttätigen Strukturen, mit denen wir uns ignorant eingerichtet haben, erst wieder als solche sichtbar machen ("Fight Club", "Ghost Dog", "The Opposite of Sex", "Pulp Fiction", "Drop Dead Gorgeous", "Natural Born Killers") und damit eine neue Form von Realismus schaffen ("Vergesst die Franzosen. Die Nouvelle Vague dieser Tage kommt aus Amerika.", Steadycam), vielleicht diejenige, die unserer Zeit am angemessensten ist.

Inhaltlich zeigt sich, daß nach dem Ende der Reagan-Ära, des kalten (und in Kuweit heißen) Krieges und mit dem rasanten Fortschreiten der Globalisierung danach andere Werte ins Blickfeld rücken. Erst jetzt wird es denkbar, daß sich ein so nestbeschmutzend unpatriotischer Film wie "Three Kings"
irgendwie finanzieren und vermarkten läßt. Unterhalb aller nationalen, ideologischen und teilweise sogar kulturellen Gegensätze scheint sich die schon oft totgesagte Familie als eine der wenigen Orientierungsmarken im globalen Dorf heraus zu kristallisieren. Folgerichtig rücken Familienbeziehungen und Konflikte ("American Beauty", "Magnolia") oder die Suche nach Ersatz ("Boogie Night", "Fight Club", "Ghost Dog", "The Opposite of Sex", "Boys don´t cry") wieder ins Blickfeld.

Darüber hinaus fällt, nicht zuletzt wohl auch durch das starke Bemühen um Glaubhaftigkeit angestossen, die hohe Selbstreflexivität der Filme und das ausgeprägte Bewußtsein für den eigenen fiktionalen Charakter als Medienprodukt und Teil eines Show-Business auf, so daß nicht selten die mediale Repräsentation selbst mehr oder weniger explizit zum Thema wird ("Truman Show", "Boogie Nights", "Blair Witch Project", "Natural Born Killers" und natürlich "Being John Malkovich", wo die ambivalent werdende Identität des Schauspielers bei der ´Verkörperung´ einer anderen Person auf unglaubliche Weise wörtlich genommen wird und er seine, ausgerechnet von einem Marionettenspieler bestimmte, neue ´Karriere´ ebenso distanziert erlebt, wie sie uns als Zuschauern in einer fiktiven TV-Dokumentation präsentiert wird).

Auf formaler Ebene scheint Pierce´s Plädoyer für die freie Wahl der Mittel (siehe oben, im Vergleich zu "Dogma 95") Gehör zu finden und so ist vom Formatmix Stones ("Natural Born Killers") und dem konterkarierenden Musikeinsatz Russells ("Three Kings") über die fragmentarische Darstellung Andersons ("Magnolia") bis zum fast meditativen Erzählstil Jarmuschs ("Ghost Dog") alles zu finden. Aber es wird nicht nur Neues ausprobiert, sondern auch Bekanntes aufgegriffen und innovativ eingesetzt, wie z.B. Off-Kommentar ("The Opposite of Sex") oder Pseudodokumentation ("Drop Dead Gorgeous"). "Blair Witch Project" läßt für den Zuschauer sogar drei Ebenen und Formate ineinander fließen, denn der Film, den er anschaut, besteht aus Szenen einer (Fake-)Doku über die Hexe (16mm Material) und eines Making-of über diese Doku (Videomaterial).

Sie gehen nicht nur in ihren Filmen neue Wege, sondern zeigen auch bei ihren Vertragsverhandlungen ein nicht gekanntes Selbstbewusstsein. P.T. Anderson z.B. hat außer der gesamten künstlerischen Gestaltung auch Einfluss auf das Marketing und schnitt höchstpersönlich die Trailer für "Magnolia" zusammen. Auch wenn die ungehaltene Beschreibung der jungen Regisseure durch einen Studio-Mächtigen als "aufgeblasene Intellektuelle" eher für ihre inzwischen auch ökonomische Relevanz im System spricht, bleibt abzuwarten, ob sie nicht das Schicksal früherer Aufmüpfiger teilen, weil außer der ungebrochenen Macht der Studios durch ihr Beinahemonopol auf der Vertriebsseite, weil immer noch gilt "die Traumfabrik pflegt ihre destruktive Fähigkeit, originelle Talente zu verschlingen - und bestenfalls in angepasste Handwerker, schlimmstenfalls in verkrachte Existenzen zu verwandeln." (Vogue)

Für noch düsterere Pessimisten "ist absehbar, was geschieht: Hollywood frißt die Märkte des "armen Kinos" nachdem "die Beziehung zwischen Mainstream und Independents kein spannungsreicher Dialog mehr ist, sondern ein schneller Impuls des ökonomischen und ästhetischen Kannibalismus" (epd Film). Das Schreckensszenario ließe sich in eine Zukunft fortschreiben, in der bei fortschreitender Globalisierung Hollywood, die schrumpfende Differenzierung der Kinomärkte intern abbildend und gleichzeitig weiter fördernd, außer mehr oder minder inhaltslosen Global-Bustern für alle auch regional bzw. subkulturspezifische Auftragsproduktionen liefert, neben denen weltweit wenn überhaupt nur noch winzige Nischen übrigbleiben. Leider ist diese Vorstellung nicht ganz abwegig, wenn man sieht, daß die im letzten Jahr durch ihre Börsengänge Hunderte von Millionen scheffelnden deutschen Medienunternehmen dieses Geld nicht etwa in heimische Projekte investieren, sondern sich damit in amerikanische Produktionsfirmen einkaufen. Bis zum Eintreten einer am Ende dieses Szenarios stehenden möglichen cineastischen Apokalypse können wir uns aber noch, neben den sechs ausgewählten, auf weitere erstklassige Filme freuen, denn "das neue Brainstream-Hollywood ist noch für einige Überraschungen gut." (Screenshot)

Also bis bald im AudimaxX.